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Das Interview ist im BOTANICA Garten- und Pflanzenfüher 2022 erschienen.

Alpenpflanzen

«Sehr viele Pflanzenarten wandern von weiter unten auf die Gipfel»

Der Schweizerische Nationalpark wurde 1914 gegründet und ist damit der älteste Nationalpark der Alpen. Er verfolgt drei Ziele: Naturschutz, Forschung und Information. Dabei dokumentiert der Bereich Forschung und Monitoring mit Unterstützung externer Forschender die Veränderungen im Schweizerischen Nationalpark. Dazu gehört auch die Langzeitforschung, die wesentlich zum Verständnis der natürlichen Prozesse beiträgt.

DR. SONJA WIPF studierte an der Universität Zürich Botanik und Umweltwissenschaften, forschte am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos und leitet nun den Fachbereich Forschung und Monitoring des Schweizerischen Nationalparks.

BEAT FISCHER Frau Wipf, als Gebirgsökologin stehen Sie oft zuoberst auf dem, Gipfel. Sind Sie auch eine Bergsteigerin?
SONJA WIPF Ich bewege mich gerne und gut im weglosen Terrain, aber eine gute Bergsteigerin im Eis und Fels bin ich nicht. Da gibt es ja auch nicht so viele Pflanzen.

Sie erforschen die Folgen des Klimawandels in alpinen Ökosystemen. Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Wir konzentrieren uns stark auf die Berggipfel, meistens auf die obersten 10 Höhenmeter. Diese wurden schon früher von Botanikerinnen und Botanikern untersucht, und wir können nun langfristige Veränderungen der Vegetation festhalten. Die Flora auf dem Gipfel ist auch deshalb spannend, weil sich dort verschiedene Mikrohabitate auf kleinstem Raum versammeln. So ist es auf der Südseite einige Grade wärmer als auf der Nordseite, obwohl nur wenige Meter auseinanderliegend.

Sie haben mehrere Jahre an zwei Studien zur Veränderung der Gipfelflora mitgearbeitet. Was hat Sie am meisten erstaunt?
Beim Gipfelflora-Projekt haben wir langfristige, rund 100 Jahre alte Vegetationsaufnahmen aus den Alpen am gleichen Ort wiederholt. Das Monitoring-Projekt GLORIA auf Berggipfeln der ganzen Welt hingegen läuft erst seit rund 20 Jahren. Was auffällt, ist, dass sehr viele Pflanzen von weiter unten auf diese Gipfel hochwandern, und zwar eine neue Art alle ein bis zwei Jahre. Diese Veränderungen laufen sehr schnell ab und wurden im letzten Jahrzehnt deutlich sichtbar. So entdeckte ich beispielsweise letzten Sommer auf fast 3000 m ü.M. eine Heidelbeere und eine Krähenbeere, die vor drei Jahren noch nicht da waren. Dabei wachsen in solchen Höhen normalerweise keine Zwergsträucher.

Nimmt die Artenvielfalt auf den Gipfeln zu?
Auf den Gipfeln findet eine riesige Zunahme der Artenvielfalt statt, und wir stellen einen Biodiversitätsgewinn fest: Auf den untersuchten Gipfeln wachsen rund eineinhalb Mal so viele Arten wie vor 100 Jahren. Jedoch sind diese neuen Pflanzenarten meistens gewöhnliche Arten, die normalerweise weiter unten vorkommen, wie zum Beispiel das Alpen-Rispengras oder der Alpen-Löwenzahn.

Welchen Stellenwert hat die Klimaforschung im Schweizerischen Nationalpark?
Ausser im Nationalpark gibt es in der Schweiz fast nirgends Habitate, auf die der Mensch praktisch keinen Einfluss nimmt. Das heisst, bei uns ist der Einfluss des Menschen viel geringer. Somit lassen sich die Auswirkungen des Klimawandels besser von anderen menschlichen Einwirkungen trennen.

Können Sie uns ein Beispiel eines Forschungsprojektes nennen?
Bei einer Analyse versuchen wir nachzuvollziehen, wie viele Samen durch Wandernde auf einen Gipfel gelangen. Letztes Jahr hat eine Masterstudentin Wandernden die Schuhe geputzt und festgestellt, dass vor allem bei nassen Bedingungen immer wieder Samen in den Profilen stecken bleiben, die so bis auf die Gipfel gelangen können. Das ist kein eigentlicher Effekt des Klimawandels; ob die Samen da oben keimen und sich etablieren können, hingegen schon. Wegen solchen menschlichen Einflüssen laufen diese Prozesse noch schneller ab.

Dank früheren Beobachtungen der Gipfelfora lassen sich langfristige Veränderungen feststellen (Alpenbotanik-Kurs des Geobotanischen Instituts Rübel der ETH Zürich unter der Leitung von Dr.Werner Lüdi im Juli 1936). Quelle: ETH-Bibliothek Zürich
Dank früheren Beobachtungen der Gipfelfora lassen sich langfristige Veränderungen feststellen (Alpenbotanik-Kurs des Geobotanischen Instituts Rübel der ETH Zürich unter der Leitung von Dr.Werner Lüdi im Juli 1936). Quelle: ETH-Bibliothek Zürich

 

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